Rezension: Marxen/Tiemann – Die Wiederaufnahme in Strafsachen

Ich habe das zu rezensierende Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Das mag eine Selbstverständlichkeit sein, aber die Lektüre vieler, wahrscheinlich der meisten sog. Rezensionen zeigt, dass das keineswegs üblich ist.

Ich habe also die 200 Seiten durchgelesen, Wort für Wort, und in Anbetracht des Hauptberufs der beiden Autoren ist es mir besonders wichtig, zu einem ausgewogenen, vor allem aber gerechten Urteil zu kommen. Das ist in diesem Fall gar nicht so einfach.

Das Buch kostet 50,00 €, eine übliche Hausnummer im Bereich der Praktikerliteratur, aber angesichts des schmalen Formats auch kein Schnäppchen. Andererseits ist es offenbar das einzige aktuelle Buch zum Thema und dass sich die beiden Autoren mit diesem Titel eine goldene Nase verdienen, ist auch alles andere als wahrscheinlich.

Der Käufer bekommt das Standardwerk zum Wiederaufnahmerecht. Doch wer kauft ein solches Buch? Zum einen wohl Rechtsanwälte, die Besuch von zu Unrecht verurteilten Mandanten bzw. deren Angehörigen erhalten und einen Antrag auf Wiederaufnahme stellen sollen. Zum anderen Richter, die über diese Anträge zu entscheiden haben.

Dass das Buch in der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ des C.F. Müller – Verlags erscheint, lässt zunächst den Schluss zu, dass Marxen und Tiemann vor allem Verteidiger im Blick hatten, als sie das Werk konzipierten. Dies wird auch durch den Buchrückentext unterstützt:

Die schwierige Materie wird so dargestellt, dass sich der Praktiker schnell und punktgenau über das erforderliche Vorbringen bei einem Wiederaufnahmeantrag und über Anforderungen an vorbereitende Maßnahmen informieren kann.

Die Herausgeber der Reihe, Alexander Ignor und Werner Beulke, bewerben das Werk ähnlich:

Ohne sachkundige Anleitung wird eine erfolgversprechende anwaltliche Vertretung des Verurteilten in der Regel nicht gelingen. Dem trägt das vorliegende Werk Rechnung.

Ich habe daran meine Zweifel.

Marxen und Tiemann haben ein sehr gut und nachvollziehbar strukturiertes Werk verfasst, das durch das Wiederaufnahmeverfahren führt: Von der Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags (100 Seiten) über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags (30 Seiten) bis hin zu den Folgen für die Strafvollstreckung. Den Besonderheiten der Wiederaufnahme nach § 79 Abs. 1 BVerfGG, der Wiederaufnahme in Bußgeldsachen und der Entschädigung des ursprünglich Verurteilten nach erfolgreichem Abschluss des Wiederaufnahmesverfahrens werden eigene kurze Kapitel gewidmet. Besonders gelungen ist schließlich der Abschnitt über die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags. Denn hier geht es vor allem ums Geld.

Die Darstellung geht jedoch kaum über die einschlägige Kommentarliteratur hinaus. Sicher – wenn im Alltag der Meyer-Goßner genügt und die Anschaffung eines ausführlichen Kommentars gescheut wurde, dann wird bei Marxen und Tiemann durchaus Neues zu lesen sein. Zwar fällt es vielen Kommentaren schwer, die Bezüge zwischen den Einzelnormen herzustellen, weshalb eine Lehr- oder Handbuch oftmals seine Berechtigung hat, doch erscheint das Wiederaufnahmerecht mit seinem überschaubaren und schnell auffindbaren Normumfang (§§ 359 – 373a StPO) und der insgesamt geringen Bedeutung von Verweisen hierfür kaum prädestiniert. Ein Blick in das – sehr zu lobende – Verzeichnis der Gesetzesstellen (S. 207-215) belegt dies eindrücklich.

Den Verteidiger dürfte aber vor allem stören, dass Marxen und Tiemann sich vor allem für rechtsdogmatische Streitigkeiten interessieren und vielfach eine eigene, durchweg gut nachvollziehbare Auffassung vertreten, die regelmäßig von jener der Rechtsprechung abweicht. Aus der – zutreffenden – Sicht der Autoren legt die Rechtsprechung die Vorschriften über die Wiederaufnahme stets zum Nachteil des – möglicherweise zu Unrecht – Verurteilten aus, was in der Summe eine deutlich zu restriktive Anwendung der durch den Gesetzgeber eingeräumten Möglichkeit zur Wiederaufnahme führt.

So richtig und nötig diese rechtsdogmatischen Auseinandersetzungen auch sein mögen: Was helfen sie dem Verteidiger? Der Verteidiger benötigt doch in der Regel einen guten Tipp, wie er trotz der Recht(sprechung)slage seinem Mandanten zu einer erneuten Hauptverhandlung verhelfen kann. Welcher Richter wird von der OLG/BGH/BVerfG (ja, auch gegen das BVerfG wird angeschrieben) – Rechtsprechung abweichen, nur weil der Verteidiger die guten Argumente bei Marxen und Tiemann abgeschrieben hat? Zumal an einigen Stellen nicht unmissverständlich klar ist, ob die von Marxen und Tiemann vorgeschlagene Lösung jene ist, auf die sich der Verteidiger bei der Anfertigung seines Antrags einzustellen hat.

Um es deutlich zu sagen: Selbstverständlich sind diese Auseinandersetzungen aus rechtspolitischen wie intellektuellen Gründen nötig und wichtig. Doch ist ein sich an Strafverteidiger richtender Band der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ hierfür der richtige Ort?

Es sind doch eher die Richter selbst, die Marxen und Tiemann mit ihrem Werk erreichen wollen und sollen. All jene Stellen mit kontroversen Positionen könnten dann aber gut in 10 Fachaufsätze aufgeteilt werden, um sie in geeigneten Publikationsorganen unterzubringen (DRiZ?), in denen sie eine Chance hätten, von der Zielgruppe wahrgenommen zu werden. Die freien Seiten ließen sich dann leicht, jedenfalls aber sinnvoll, mit ein wenig Kriminologie füllen: Wie groß ist der Anteil der erfolgreichen Anträge auf Wiederaufnahme (kein Wort hierzu bislang!)? Bei welchen Delikten ist eine Wiederaufnahme besonders wahrscheinlich? Welche informellen Programme existieren? Wie entwickelt der Verteidiger eine erfolgreiche Strategie?

Auf diese Fragen wird in einer Neuauflage zu antworten sein. Denn bei derart geringer Aussicht auf Erfolg kann man sich dem Thema Wiederaufnahme nicht allein rechtsdogmatisch nähern. Für eine Reihe mit dem Titel „Praxis der Strafverteidigung“ sollte dies erst recht gelten.

Die Wiederaufnahme in Strafsachen

Klaus Marxen / Frank Tiemann
3., neu bearbeitete Auflage 2014, 224 Seiten
49,99 €

Hinweis: Das rezensierte Buch wurde uns vom C.F. Müller Verlag zur Verfügung gestellt.

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