Das Mordmerkmal der Habgier beim Erstreben staatlicher Versorgung in der Justizvollzugsanstalt
In der juristischen Ausbildung sieht sich jeder Student mindestens einmal mit dem Ausruf eines Strafrechtsprofessors, „die schönsten Fälle schreibt das Leben“, konfrontiert. Was folgt ist die Nennung besonders ausgefallener BGH-Fälle, in der Regel mit ebenso ausgefallen Bezeichnungen. Prominente Vertreter sind unter anderem der „Katzenkönig“ (BGHSt 35, 347) und der „Jauchegruben“-Fall (BGH Urt. v. 26. April 1960 – 5 StR 77/60). Zumindest hinsichtlich seiner Absurdität und Tragik hat der, dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. Mai 2020 (4 StR 140/20) zugrunde liegende Sachverhalt, das Potential ein ebensolcher „Klassiker“ zu werden.
Im Zentrum des vorliegenden Beschlusses liegt die Frage, ob sich ein Täter wegen Mordes aus Habgier strafbar macht, wenn er einen anderen Menschen tötet, um in den Genuss staatlicher Versorgungsleistungen zu gelangen.
Nach gängiger Definition handelt ein Täter habgierig, wenn er einen Menschen aus einem Streben nach materiellen Gütern oder Vorteilen tötet, das in seiner Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit das erträgliche Maß weit übersteigt und das in der Regel durch eine ungehemmte triebhafte Eigensucht bestimmt ist. Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Vermögen des Täters objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehrt oder dass durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine Vermögensvermehrung entsteht.
Während der klischeehafte Täter aus Habgier tötet, um ein Erbe oder den Geldbeutel des Opfers zu erlangen, handelte der Angeklagte vorliegend, um infolge des Tötungsversuches im Gefängnis in den Genuss stattlicher Versorgungsleistungen zu kommen.
So wollte der vermögenslose und nicht krankenversicherte Angeklagte eine schwere Straftat begehen, um langfristig Unterkunft, Verpflegung und Krankenversorgung in einer Justizvollzugsanstalt zu erhalten. In dieser Absicht fuhr er mit seinem Fahrzeug mit mindestens 80 km/h gezielt von hinten auf den auf einem Fahrradweg radelnden Nebenkläger auf. Der Angeklagte wollte diesen erheblich verletzen. Zudem hielt er den Eintritt des Todes des Nebenklägers ernsthaft für möglich und nahm ihn billigend in Kauf. Der Nebenkläger wurde von seinem Fahrrad geschleudert und erlitt durch den Aufprall und den Sturz schwere Verletzungen.
Der BGH sah die Voraussetzungen für das Mordmerkmal der Habgier als erfüllt an. Die vom Angeklagten infolge der Inhaftierung angestrebten staatlichen Versorgungsleistungen stellen einen relevanten Vermögensvorteil dar. Nach dem Vorstellungsbild des Angeklagten war die Tatbegehung allein auf eine langfristige Versorgung durch eine staatliche Einrichtung und damit auf eine Verbesserung seiner Vermögenslage im Sinne eines rücksichtslosen Gewinnstrebens ausgerichtet.
Weder die mit der erstrebten Inhaftierung verbundenen persönlichen Einschränkungen für den Angeklagten, noch der Umstand, dass entsprechende Leistungen auch auf legale Weise durch die Beantragung von Sozialleistungen hätten erreicht werden können, stehen der Annahme von Habgier entgegen. Bezüglich der persönlichen Einschränkungen sei dies nicht der Fall, da diese in der Vorstellung des Angeklagten nur eine untergeordnete Rolle spielten und der angestrebte Vermögensvorteil für den Angeklagten das maßgebliche Tatmotiv war. Die Möglichkeit der legalen Erlangung der erstrebten Leistungen sei insofern ohne Bedeutung. Auch setze das Mordmerkmal der Habgier keinen funktionalen Zusammenhang zwischen Tötung und Vermögensvermehrung in dem Sinne, dass der Angriff auf das Leben aus Sicht des Täters unerlässliches Mittel zur Zielerreichung ist, voraus, weshalb die Möglichkeit der legalen Erlangung der Sozialleistungen ferner auch nicht von Bedeutung sei. Entscheidend sei vielmehr die Motivation des Täters.
Ob der vorliegende Sachverhalt tatsächlich als „Klassiker“ in die Strafrechtslehre Einzug erhalten wird, hat sich noch zu zeigen. Zwar eignet sich dieser Fall nicht zur Veranschaulichung komplizierter juristischer Problemstellungen, wie dies beim „Katzenkönig“ und „Jauchegrube“-Fall der Fall sein mag. Die Subsumtion unter das Mordmerkmal der Habgier liegt vorliegend auf der Hand. Jedoch eignet sich der vorliegende Fall hervorragend, um Habgier Sachverhalte abseits typischer Konstellationen anschaulich zu machen. Im Zuge dessen wird sich wohl noch so mancher Student oder Examenskandidat mit dem vorliegenden BGH-Beschluss zu befassen haben.