Lernbeitrag Strafrechtliche Grundprinzipien Teil 4

Dieser Beitrag zu den strafrechtlichen Grundprinzipien erscheint in mehreren Teilen.
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Zum Teil 2: hier
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III. Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips
A. Das Bestimmtheitsgebot
1. Begriffsbestimmung und Funktion

Das Bestimmtheitsgebot „nullum crimen, nulla poena sine lege certa“ ist die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände [für den Normadressaten] zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen[18].

Es hat dabei zwei Komponenten – eine freiheitsgewährleistende und eine kompetenzwahrende Komponente.[19]

Die freiheitsgewährleistende Komponente beinhaltet zweierlei: Zunächst hat der Strafgesetzgeber das Erlaubte vom Verbotenen klar abzugrenzen. Damit korrespondiert das subjektive Bürgerrecht, durch die klare Abgrenzung in die Lage versetzt zu werden, sich durch Tun und Unterlassen eigenverantwortlich auf die strafrechtliche Lage einzurichten. Willkürliche Reaktionen sollen nicht gefürchtet werden müssen.[20]

Ein Beispiel: Elektriker E plant, die Stromleitung seines Nachbarn N „anzuzapfen“, um sich so kostenlos mit Strom versorgen zu können. Als ihm Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens kommen, wagt er einen Blick in das Strafgesetzbuch und stößt nach kurzer Recherche auf § 242 StGB (Diebstahl). Dieser stellt die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache unter Strafe. E weiß, dass er dem N etwas wegnimmt und der Strom für ihn fremd ist. Den Begriff „Sache“ muss er zwar auslegen, kommt jedoch darauf, dass Sachen im allgemeinen Sprachgebrauch körperliche Gegenstände sind. Da dem E aus leidvoller Erfahrung bekannt ist, dass man Strom nicht anfassen kann, muss er – trotz gewisser bestehender Zweifel – keine Bestrafung nach § 242 StGB fürchten und kann seinen Tatplan weiter fortsetzen. Einige Tage später erzählt ihm sein Freund F, dass nur wenige Paragraphen später der deutlich bestimmtere § 248c StGB die Entziehung elektrischer Energie unter Strafe stellt. Diese Norm beschreibt ziemlich genau den Tatplan des E. Er kann nun in Kenntnis des Risikos der Strafverfolgung von seinem Plan Abstand nehmen bzw. ist er sich bei Tatbegehung wenigstens der Strafbarkeit bewusst.

Das Bestimmtheitsgebot hat auch eine kompetenzwahrende Komponente. Ausgangspunkt ist, dass das Bestimmtheitsgebot eine durch Gesetz bewirkte Bestimmtheit verlangt. Dies bedeutet, dass im Strafrecht allein der Gesetzgeber abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Er darf die Entscheidung nicht der Strafjustiz überlassen.[21]

Allenfalls darf der Gesetzgeber die Exekutive zum Erlass von Strafvorschriften ermächtigen; Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe müssen jedoch aus der gesetzlichen Ermächtigung ersichtlich sein. Freiheitsstrafe ist als Sanktion einer Rechtsverordnungsnorm ausgeschlossen, s. o.

2. Ein Beispiel zur Erläuterung
Ein Beispiel zu finden, in dem die Rechtsprechung eine Norm als mit dem Bestimmtheitsgrundsatz unvereinbar angesehen hat, ist recht schwierig. Bekannt hingegen ist die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshof[22], in der folgende Norm als nicht hinreichend bestimmt bewertet wurde:

Nach Artikel II Nr. 43 der Verordnung Nr. 1 der Militärregierung – Deutschland[23] wird „mit irgend einer Strafe, jedoch nicht der Todesstrafe, geahndet:

[…]
43. Verhalten, das gegen die öffentliche Ordnung oder die Interessen der Alliierten Streitkräfte oder eines Angehörigen derselben verstösst.“

Die oben genannte Nr. 43 der Verordnung Nr. 1, die Verbrechen und andere strafbare Handlungen enthält, ist als Auffangtatbestand konzipiert. Die daraus resultierende Unbestimmtheit ist evident. Während man über die Bestimmtheit des Tatbestandsmerkmals „öffentliche Ordnung“ noch streiten kann, ist es für den verständigen Rechtsunterworfenen unmöglich auszumachen, worin die Interessen der alliierten Streitkräfte bestehen. Selbst wenn der Gesetzgeber einmal die Interessen der Alliierten definieren konnte – gegen oder zumindest ohne den Willen des Gesetzgebers können sich diese über die Jahre ändern. Vom Bürger kann jedoch nicht verlangt werden, diesen Prozess zu verfolgen. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat beide Tatbestandsalternativen („Verstoß gegen die öffentliche Ordnung“ und „Handlung gegen die Interessen der alliierten Streitkräfte (…)“ als unbestimmt angesehen.

Letztlich ist auch fraglich, ob eine Strafe, die nach richterlichem Ermessen zwischen Geldstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe liegen kann, bestimmt genug ist.

  • [18] BVerfG 71, 108.
  • [19] Satzger: Internationalisierung des Strafrechts, in: JuS 11/2004, 943 f.
  • [20] BVerfGE 85, 69.
  • [21] BVerfG, Beschl. v. 22.11.2002, 2 BvR 2202/01.
  • [22] BayVerfGHE 4, 194.
  • [23] verkündet am 18. September 1944 durch General Dwight D. Eisenhower, in: Militärregierung-Deutschland (Hrsg.): Sammlung der Gesetze. S. 12.


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