Lernbeitrag: Strafrechtliche Grundprinzipien Teil 1
Teil 1 – Einleitung
„Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanken auf sie am besten zutrifft.“
Noch vor gut 65 Jahren stand diese Rechtsnorm als § 2 im Deutschen Strafgesetzbuch, die Nationalsozialisten hatten sie 1935 hineingeschrieben. Sie verabschiedeten sich mit ihr von 200 Jahren Aufklärung und von einem anderen, viel pointierteren Rechtssatz, den Anselm von Feuerbach, der Verfasser des bayerischen Kriminalgesetzes von 1813 geprägt hat:
Nulla poena sine lege. Oder deutsch: Keine Strafe ohne Gesetz.
Der § 2 StGB in der Fassung von 1935 ist die Verneinung Feuerbachs. Er lässt unbestimmte Strafgesetze Anwendung finden („Grundgedanke“), erlaubt die Anwendung von Gewohnheitsrecht („gesundes Volksempfinden“) und hält analoge Anwendungen anderer Gesetze für zulässig. Ein Gutteil des nationalsozialistischen Unrechtsstaates spiegelt sich in eben jener Vorschrift wider.
Der demokratische Gesetz- und Verfassunggeber hat daraus gelernt. Heute heißt es in § 1 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG wortgleich:
„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“
§ 1 StGB zeigt die besondere symbolische Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips. Art. 103 Abs. 2 GG jedoch geht noch einen gehörigen Schritt weiter: Er entzieht „nulla poena sine lege“ der Dispositionsbefugnis des einfachen Gesetzgebers und ermöglicht dem Rechtsunterworfenen den sprichwörtlichen „Gang nach Karlsruhe“ zur verfassungsrechtlichen Überprüfung.
Eine Abkehr von den Grundsätzen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips durch Gesetz ist schwieriger geworden, seine zentrale Bedeutung für den Rechtsstaat wird regelmäßig verbal wiederholt. Allerdings machen es Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB Legislative und Judikative nicht einfach. Die Versuchung ist groß, sich über die in ihnen niedergelegten strafrechtlichen Grundprinzipien einfach hinwegzusetzen. Das Gesetzlichkeitsprinzip muss daher regelmäßig gegen Angriffe der Staatsgewalten verteidigt werden. Trotz des hohen Prestiges des Gesetzlichkeitsprinzips, „lässt sich schwerlich eine andere Rechtsnorm finden, die […] in der Praxis so häufig missachtet wird.“ (Schünemann 1978:8) Auch darüber wird in diesem Lernbeitrag zu lesen sein.
Der mehrteilige Lernbeitrag will einen Überblick über die Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips und seine wesentlichen Streitstände geben. Nach einem Überblick über das Gesetzlichkeitsprinzip bildet die Erläuterung seiner Ausprägungen, im einzelnen
- des Bestimmtheitsgrundsatzes
- des Analogieverbots
- des Verbots täterbelastenden Gewohnheitsrechts sowie
- des Rückwirkungsverbots
den Schwerpunkt. Hierbei wird jeweils eine Begriffsbestimmung vorgenommen, der sich eine Zusammenstellung der wesentlichen Streitstände des jeweiligen Prinzips anschließt. Ein aktueller kontroverser Fall aus der Praxis schließt nach Möglichkeit jeweils die Darstellung ab.
Dieser Beitrag zu den strafrechtlichen Grundprinzipien erscheint in mehreren Teilen.
Zum Teil 2: hier