Lernbeitrag Strafrechtliche Grundprinzipien Teil 5

Dieser Beitrag zu den strafrechtlichen Grundprinzipien erscheint in mehreren Teilen.
Zum Teil 1: hier
Zum Teil 2: hier
Zum Teil 3: hier
Zum Teil 4: hier


3. Wichtige Problemkonstellationen

Es gibt zahlreiche Probleme im Rahmen des Bestimmtheitsgebots. Diese reichen von einzelnen Vorschriften des StGB (u. a. Beleidigung, § 185 StGB oder die Regelungen über das Unterlassen, § 13 StGB), über die Frage, für wen die Gesetze eigentlich bestimmt sein müssen (Adressat) bis hin zu generellen Überlegungen hinsichtlich der Zulässigkeit von wertausfüllungsbedürftigen Begriffen und Generalklauseln im Strafrecht.

a) Die Beleidigung, § 185 StGB

Es lässt sich generell feststellen, dass die Rechtsprechung im Hinblick auf die Bestimmtheit sehr geringe Anforderungen an strafrechtliche Vorschriften stellt. Nur wenige Tatbestände wurden von der Rechtsprechung als nicht hinreichend bestimmt angesehen. Ein wichtiges kontroverses Beispiel ist die Beleidigung, § 185 StGB[24]. Bestraft wird hier nicht eine bestimmte im Tatbestand umschriebene Tathandlung, sondern die Beleidigung als solche. Sie wird nicht näher definiert. Es ist somit allein aus dem Gesetz für den Normunterworfenen nur schwer vorherzusehen, welche Äußerung oder Handlung in welcher Situation eine strafrechtlich relevante Beleidigung darstellt.

Grundsätzlich sieht das Bundesverfassungsgericht dieses Problem auch. In seiner berühmten „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung[25] sah es den § 185 StGB allerdings deshalb als ausreichend bestimmt an, weil der Begriff der Beleidigung „durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt, der den Gerichten ausreichende Vorgaben für die Anwendung an die Hand gibt und den Normadressaten deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben“[26]. An die Stelle der Verantwortlichkeit des Gesetzgebers für ein bestimmtes Gesetz im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG tritt eine endlose Kasuistik.

Diese Ansicht ist nur schwer mit der kompetenzwahrenden Komponente („Nur der Gesetzgeber, allenfalls die Exekutive, aber keineswegs die Justiz entscheidet, was strafbar ist.“) und der freiheitsgewährenden Komponente des Bestimmtheitsgrundsatzes vereinbar.

Wenn der A dem B „mal so richtig die Meinung sagen will“, muss er sich erst durch 100 Jahre höchstrichterliche Rechtsprechung arbeiten um auch nur annähernd übersehen zu können, ob die geplante Äußerung eine Straftat darstellt. Bei häufig länger und umfassender geplanten Delikten, vor allem im Wirtschaftsstrafrecht, darf man von den Beteiligten eventuell ein wenig Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zu ihren geplanten Taten erwarten. Bei (in der Regel) ad-hoc-Straftaten in entsprechenden sozialen Milieus ist eine vorherige Rechtsprechungslektüre schwer vorstellbar oder (z. B. bei Auftreten neuartiger Probleme wie der Kollektivbeleidigung) umsonst.

Anders formuliert: Was nützt es, wenn der Richter in Kenntnis der Rechtslage eine Beleidigung korrekt aburteilen kann, wenn der Bestimmtheitsgrundsatz doch (auch) dem Bürger dienen soll?

Mangelnde Bestimmtheit wird auch den Tatbeständen der Nötigung[27], § 240 StGB und der Untreue[28], § 266 StGB vorgeworfen.

Ebenfalls als verfassungskonform wurde der Tatbestand des groben Unfugs, § 360 Abs. 1 Nr. 11, 2. Alt. StGB aF angesehen.[29] Der Gesetzgeber sah daher wenig Änderungsbedarf, als er den ähnlich lautenden und kaum bestimmteren § 118 OWiG einführte („grob ungehörige Handlung“).[30]

b) Unechte Unterlassungsdelikte, § 13 StGB

Im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz sind auch die Vorschriften über die Unterlassungsstrafbarkeit, § 13 StGB problematisch[31]. Nach dieser Vorschrift ist das Unterlassen einer Erfolgsabwendung strafbar, wenn hierfür eine Rechtspflicht besteht.[32] Der Kreis möglicher Garantenpflichten ist dem StGB allerdings nicht ohne weiteres zu entnehmen.

Fraglich ist zum Beispiel, ob ein Amtsträger auch für die Abwendung eines Erfolgs verpflichtet ist, von dessen drohendem Eintritt er privat, d. h. außerdienstlich Kenntnis erlangt hat. Grundsätzlich müssen Tatbestand und Rechtsfolge gesetzlich bestimmt sein. § 13 StGB verlangt für die Begründung einer Garantenstellung eine Rechtspflicht. Diese lässt sich für während der Dienstzeit bekannt gewordene Straftaten den §§ 163 Abs. 1, 152 Abs. 2 StPO entnehmen. Kann man diese Pflicht aber auch auf die Freizeit übertragen? Ist der Beamte „immer im Dienst“? Die Rechtsprechung[33] verlangt dies, wenn die strafbaren Handlungen in die Phase seiner Dienstausübung hineinreichen und diese ausreichend schwer sind, sodass die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Straftatverfolgung und dem Indivdualinteresse am Schutz seiner Privatsphäre zugunsten ersterem ausfällt. Bereits die verlangte „Schwere“ der Tat eröffnet einen weiten Beurteilungsspielraum, der sich nicht mehr aus dem Gesetz ergibt sondern aus der Auslegung einer Auslegung des § 13 StGB.

Das Bundesverfassungsgericht sieht auch, dass diese Rechtsprechungsansicht kaum sicher vorhersehbar ist. Es behilft sich jedoch mit einer Aufweichung des Bestimmtheitsgebots, um dennoch zur Verfassungsgemäßheit zu gelangen. Für die gesetzliche Bestimmtheit soll nun genügen, dass „der konkrete Normadressat das Risiko möglicher Bestrafung anhand gefestigter Rechtsprechung hinreichend sicher erkennen kann“[34]. Zur Erinnerung: § 103 Abs. 2 GG verlangt schlank: „Die Strafbarkeit muss gesetzlich bestimmt sein.“ Aus „Strafbarkeit“ wird in dem Beschluss das „Risiko einer möglichen Bestrafung“, aus „bestimmt“ wird „hinreichend sicher“, aus „gesetzlich“ im Sinne von „anhand des Gesetzes“ wird „anhand gefestigter Rechtsprechung“. Die Strafbarkeit muss nun auch nicht mehr „jedermann“ voraussehen können, sondern nur „der konkrete Normadressat“[35].

Vor allem, wenn nur das Risiko einer möglichen Bestrafung vorhersehbar sein muss, schaffen wir eine Welt der Unsicherheit und der willkürlichen Verfolgbarkeit, die bereits von Franz Kafka im „Prozeß“[36] vor 100 Jahren eindrücklich beschrieben wurde.

  • [24] Ignor, Der Straftatbestand der Beleidigung S. 158.
  • [25] BVerfGE 93, 266.
  • [26] BVerfGE 93, 266.
  • [27] Wessels / Hettinger, BT/1 Rn. 381.
  • [28] Wessels / Hillenkamp, BT/2 Rn. 750.
  • [29] BVerfGE 26, 41.
  • [30] Bohnert, Anm. zu BVerfG, Beschl. v. 11.05.1987, NStZ 1988, 134.
  • [31] Wessels / Beulke, AT Rn. 716.
  • [32] BVerfGE 96, 68.
  • [33] BGH NStZ 1998, 194.
  • [34] BVerfG NJW 04, 303.
  • [35] Gegenüberstellung bei: Seebode, in: JZ 2004, S. 307.
  • [36] Kafka, Franz: Der Prozeß, Suhrkamp Taschenbuch, Bd. 3669, Berlin 2005.

Dieser Beitrag zu den strafrechtlichen Grundprinzipien erscheint in mehreren Teilen.
Zum Teil 1: hier
Zum Teil 2: hier
Zum Teil 3: hier
Zum Teil 4: hier

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert