Heimtückische Tötung eines Kleinkindes
BGH, Beschl. v. 5.8.2014 − 1 StR 340/14 (LG Ravensburg) = NStZ 2015, 215

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass es bei der Tötung eines wenige Wochen oder Monate alten Kleinkindes für die Frage der Heimtücke nicht auf dessen Arg- und Wehrlosigkeit ankommt, da es aufgrund seines Alters noch zu keinerlei Argwohn oder Gegenwehr fähig ist, sondern auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf das Kind schutzbereiten Dritten. Schutzbereiter Dritter ist jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut oder vom Täter ausgeschaltet wurde. Dafür ist es zwar nicht erforderlich, dass der potentiell schutzbereite Dritte „zugegen“ ist, er muss den Schutz allerdings wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe notwendig ist.

Der Mordparagraph in § 211 StGB ist mit seiner lebenslangen Freiheitsstrafe und den vage formulierten Mordmerkmalen eine der umstrittensten Paragraphen des deutschen Strafgesetzbuchs. Besonders komplex und dementsprechend stark diskutiert ist das in der Rechtspraxis häufig vorkommende Merkmal der Heimtücke. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung umschreibt dieses tatbezogene Merkmal eine besonders gefährliche Tatausführung, die sich dadurch kennzeichnet, dass der Täter eine zur Tatzeit beim Opfer bestehende Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Begehung der Tat ausnutzt.
Arglos ist laut Definition, wer sich bei Beginn des Tötungsversuchs keines erheblichen tätlichen Angriffs auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit versieht. Wehrlos ist, wer in Folge seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außer Stande oder stark eingeschränkt ist.

Die Konstellation der Heimtücke bürgt dort Probleme, wo Opfer involviert sind, die aufgrund ihres Alters oder einer psychischen Störung selbst nicht dazu in der Lage sind, Arg- oder hervorzubringen. Dieser Artikel soll sich mit der Frage beschäftigen, inwiefern es möglich ist, einen heimtückischen Angriff an einem nur wenige Monate alten Kleinkind zu verüben. Dafür ist zunächst folgender Sachverhalt zugrunde zu legen.

Die Angeklagte tötete ihre sechs Monate alte Tochter, während der Ehemann aus freien Stücken auf dem Weg zu einer ca. zwei Kilometer von der ehelichen Wohnung entfernten Arztpraxis war, um sich dort unter Vortäuschung eines Magen-Darm-Infekts für die nächsten Tage krankschreiben zu lassen. Zweck der Krankschreibung war, dass sich der Ehemann in den kommenden Tagen vermehrt um das gemeinsame Kind kümmern wollte, weil die Mutter mit dessen Versorgung auf Grund einer depressiven Episode überfordert war.

Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, ob man in Situationen, wo das Opfer nur wenige Monate alt ist, von einem heimtückisch begangenen Mord ausgehen kann. Dafür müsste das Kleinkind zum Tatzeitpunkt sowohl arg- als auch wehrlos gewesen sein und der Täter müsste diese Situation bewusst ausgenutzt haben. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass es im Rahmen der Heimtücke bei der Tötung eines wenige Monate alten Kleinkindes gerade nicht auf dessen Arg- und Wehrlosigkeit ankommen kann, da Kindern unter drei Jahren grundsätzlich die Fähigkeit abgesprochen wird, einem anderen Menschen gegenüber Misstrauen in differenzierter Weise zu empfinden und Argwohn zu entwickeln. Stattdessen wird in solchen Konstellationen auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf das Kind schutzbereiten Dritten abgestellt.

Schutzbereiter Dritter ist demnach jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut oder vom Täter ausgeschaltet wurde. Wichtig ist dabei, dass für den schutzbereiten Dritten zum Tatzeitpunkt auch die Möglichkeit einer wirksamen Erbringung des Schutzes besteht, woraus die Voraussetzung einer gewissen räumlichen Nähe erwächst.

Dem BGH lag somit die Frage zugrunde, ob der Ehemann vorliegend als schutzbereiter Dritter in diesem Sinne angesehen werden kann und ob die Angeklagte dessen Arg- und Wehrlosigkeit zur Tötung des gemeinsamen Kindes ausgenutzt hat.

Nach Auffassung des Landgerichts hat die Angeklagte das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht. Der Ehemann sei zur Abwehr von Gefahren gegenüber dem selbst nicht zum Argwohn fähigen Kleinkind bereit gewesen. Er habe schon den ganzen Tag die Versorgung und den Schutz des Kindes in besonderem Maße wahrgenommen und diese Aufgaben im Vertrauen auf die Angeklagte nur wenige Minuten vor der Tat vorübergehend an sie abgegeben. Die Zeit seiner Abwesenheit sei auf Grund der räumlichen Nähe der Arztpraxis zur Wohnung von vornherein absehbar kurz gewesen. Beim Verlassen der Wohnung und während des ca. 30 Minuten dauernden Arztbesuchs habe er sich keines Angriffs gegen sein Kind versehen, sonst hätte er die Wohnung nicht verlassen oder das Kind mitgenommen. Weil er der Angeklagten vertraut hatte, habe er ihr vorübergehend die Obhut über das Kind überlassen. Diese Situation habe die Angeklagte bewusst zur Tötung des Kindes ausgenutzt.

Die Revision der Angeklagten hatte jedoch Erfolg.

Der BGH änderte das Urteil des Landgerichts im Schuldspruch dahingehend ab, dass die Angeklagte des Totschlags gem. § 212 StGB schuldig ist und hob den Strafausspruch auf. Die getroffenen Feststellungen tragen das Mordmerkmal der Heimtücke nicht. Es fehlt vorliegend an der erforderlichen räumlichen Nähe zwischen Schutzperson und Tatopfer. Der Kindesvater verließ den räumlichen Bereich des Kleinkindes für eine nicht nur unerhebliche Dauer und entfernte sich über einen Kilometer vom Tatort, wodurch es ihm mangels tatsächlicher Einwirkungsmöglichkeit auf das Geschehen auch nicht mehr möglich war, seinen Schutz wirksam zu erbringen. Somit kann er nicht als schutzbereiter Dritter angesehen werden und eine heimtückische Begehung scheidet aus, da das Kind selbst keinen Argwohn hegen kann.

Eine stellvertretende Zurechnung der Arg- und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten zu Gunsten eines zu Argwohn und Gegenwehr unfähigen Menschen ist nur dann legitim, wenn beide Personen auch derart räumlich verbunden sind, dass es dem Dritten grundsätzlich möglich wäre, dem Täter bei einem tödlichen Angriff etwas entgegenzusetzen. Dies ist jedoch dann nicht der Fall, wenn auf Grund der räumlichen Distanz der tödliche Angriff von dem schutzbereiten Dritten schon gar nicht wahrgenommen werden kann und jegliche Gegenwehr auch deshalb zu spät käme.

Ursache für die Abwesenheit des Kindesvaters war im vorliegenden Fall auch keine Aufforderung oder Täuschung durch die Angeklagte mit dem Ziel, während der Abwesenheit einen Angriff auf das gemeinsame Kind vorzunehmen. Stattdessen hat sich der Vater aus freien Stücken aus der Wohnung zum Arzt begeben und damit den zuvor ausgeübten Schutz des gemeinsamen Kindes vorübergehend aufgegeben.

Da es sich bei der Konstellation des schutzbereiten Dritten um eine Ausweitung des Schutzes handelt und eine stellvertretende Zurechnung ermöglicht wird, darf solch eine Zurechnung nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen, die es einzuhalten gilt. Würde man den Schutz durch die Konstellation des schutzbereiten Dritten erweitern und die Voraussetzungen dafür weit fassen, würde man schneller und häufiger zu einer Bestrafung wegen Mordes kommen, was stets eine lebenslange Freiheitsstrafe mit sich bringt. Aufgrund dieser absoluten Strafandrohung scheint es legitim, strenge Voraussetzungen an die stellvertretende Zurechnung der Arg- und Wehrlosigkeit zu stellen.

Rechtsanwalt Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht, Berlin – Kreuzberg

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