Kann die mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen begangen werden?
Der Bundesgerichtshof (BGH) setzte sich in seinem Urteil vom 17. Mai 2023 (6 StR 275/22) mit der gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen auseinander. Konkret ging es um die gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Nach den Feststellungen des Landgerichts Verden ging die zur Tatzeit 19-jährige, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte und unter Betreuung stehende Geschädigte der Prostitution nach. Ihr Zuhälter war ab 2020 der gesondert verfolgte D. Nachdem es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen der Angeklagten und der Geschädigten gekommen war, rief die Angeklagte am frühen Morgen des 08. April 2020 ihren Lebensgefährten zu Hilfe. Gemeinsam verbrachten sie die Geschädigte in die Garage, wo sie bis zu ihrem Tod verblieb. K verließ die Garage mehrmals, um zu rauchen. H begab sich häufiger in das Wohnhaus. Der hinzugekommene Kr kehrte nach stundenlanger Abwesenheit einige Male zurück. Alle erkannten, dass sich die Geschädigte aufgrund ihrer akut psychotischen Symptomatik in Not befand und fachärztlicher Hilfe bedurfte. In der Hoffnung, die „Einnahmequelle“ für K erhalten zu können, entschieden sie sich jedoch gemeinsam dazu, keine fachärztliche Hilfe zu organisieren, sondern sich selbst um deren Zustand zu kümmern. Dabei nahmen sie eine Verlängerung des Leidens der Geschädigten in Kauf, das durch die Gabe von Medikamenten nach kurzer Zeit hätte gelindert werden können. Aufgrund ihrer akuten Psychose schrie die Geschädigte wiederholt laut auf, nässte sich ein, übergab sich und krampfte, was H auf Vorschlag von Kr dazu bewog, eine unbekannt gebliebene Menge Salz in einem Glas Wasser zu lösen, welches die Geschädigte sodann trank. Ferner wurden ihr erneut Cannabisprodukte angeboten. Bei jedenfalls einer Gelegenheit wurde sie gewürgt und ihr wurde der Mund zugehalten. Durch wen und in wessen Anwesenheit diese Handlungen erfolgten, konnte nicht festgestellt werden. Die Geschädigte verstarb zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt in der Nacht zum 09. April 2020 in der Garage. Todesursächlich war entweder ein Würgen oder die Einwirkung einer zu großen Menge Salz auf den Organismus. Wer ihren Tod verursacht hatte, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen.
Das LG hat den Angeklagten K u.a. wegen schwerer Zwangsprostitution, Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die Angeklagte Kr und H hat es u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen für schuldig gesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein. Nach Auffassung der Karlsruher Richter hält der Schuldspruch revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Die Angeklagten haben den Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB (mit-)täterschaftlich durch Unterlassen erfüllt.
Nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB macht sich schuldig, wer die Körperverletzung (§ 223 StGB) mit einem Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Um das gegenüber dem Grundtatbestand verdoppelte Strafhöchstmaß zu rechtfertigen, setzte diese Qualifikation eine Beteiligung voraus, die im konkreten Fall zu einer erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Körperverletzung für das Opfer führe. Eine solche liege insbesondere vor, wenn mindestens zwei Angreifer handeln und damit eine größere Zahl an Verletzungen beibringen können, wenn die Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers durch die Anwesenheit mehrerer Beteiligter tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt seien oder wenn der die Körperverletzung unmittelbar ausführende Täter durch einen weiteren Beteiligten in seinem Willen hierzu bestärkt werde.
Die gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB könne durch Unterlassen begangen werden, so der BGH. Der Gesetzeswortlaut lasse insoweit keine Einschränkung erkennen, so dass die allgemeinen Regeln einschließlich des Begehens durch Unterlassen nach § 13 StGB Anwendung finden. Zu diesem Normverständnis drängen insbesondere auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Deren Neufassung durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BHB I, S. 164) sollte zuvörderst dem Anliegen Rechnung tragen, dem Schutz körperlicher Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen. Eingedenk dieses erstrebten effektiven Rechtsgüterschutzes sei bei der Anwendung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in den Blick zu nehmen, dass auch einer Tatbeteiligung durch Unterlassen – nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalles – die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten innewohnen könne. Für die Annahme einer gesteigerten Gefährlichkeit bei gemeinschaftlicher Begehung mit einem anderen aktiv handelnden Beteiligten genüge allerdings die Anwesenheit einer sich lediglich passiv verhalten Person ebenso wenig wie das bloße gleichzeitige Agieren von Beteiligten an einem Ort, wenn jedes Opfer nur einem Angreifer ausgesetzt sei. Dementsprechend könne allein das gleichzeitige Unterlassen mehrerer Garanten im Sinne einer reinen Nebentäterschaft den Tatbestand nicht erfüllen. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit werde aber regelmäßig gegeben sein, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei handlungspflichtige Garanten zumindest zeitweilig am Tatort präsent seien. Denn die getroffene Vereinbarung und die damit einhergehende Verbundenheit verstärkten wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss, die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringerte, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtungen gerecht werde. So liege der Fall hier. Ausweislich der Feststellungen vereinbarten die Angeklagten am Vormittag des 08. April 2020 ausdrücklich, sich selbst um den Zustand der Geschädigten zu kümmern und keine ärztliche Hilfe zu holen. Dem Zusammenhang der Urteilsgründe sei weiterhin zu entnehmen, dass sich alle Angeklagten an diese Verabredung gebunden fühlten, was zur Folge hatte, dass sie bis zuletzt auf das Hinzuziehen professioneller Hilfe verzichteten, obgleich insbesondere die Zeuginnen N und V die Angeklagten H hierzu anhielten. Die Verabredung bestärkte die Angeklagten in ihrer Entscheidung und hatte somit auf das Tatgeschehen bestimmenden Einfluss.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Strafverteidiger in Berlin-Kreuzberg