Das Mordmerkmal der sonst niedrigen Beweggründe im Sinne von § 211 Abs. 2,Gruppe 1, Variante 4 StGB
Dem Beschluss des Bundesgerichthofs (2 StR 79/23) vom 12. Oktober 2023 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Dem Angeklagten wurde vor 10 bis 15 Jahren ein Kilogramm Kokain entwendet. Er schwor, sich bei dem Dieb zu rächen, indem er diesen erschießen werde, wenn er ihm bekannt werden würde. Er unternahm jedoch keine Bemühungen, dessen Identität festzustellen. Zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt gelangte es dem Angeklagten zu der Überzeugung, dass der Nebenkläger der Drogendieb war, und beschloss, diesen zu erschießen. Zum Zeitpunkt des Entschlusses und der Tatausführung litt der Angeklagte, infolge eines Schlaganfalls, unter einem hirnorganischen Psychosyndrom. Nach Maßgabe seines Tatplans begab sich der Angeklagte zur Wohnanschrift des Nebenklägers. Mit einer geladenen und schussbereiten Pistole, die er in der Jackentasche mit sich führte, klingelte er an der Haustür. Der Nebenkläger öffnete die Haustür mit dem elektrischen Türöffner in der Annahme eines Postboten und begab sich anschließend ins Treppenhaus. Der Angeklagte ging die Treppen hinauf und der Nebenkläger kam ihm entgegen. Beide erkannten sich, als noch vier oder fünf Treppenstufen zwischen ihnen lagen. Der Angeklagte sagte „Da bist du, du Schwein!“ oder „Jetzt habe ich dich, du Schwein!“. Sodann zog er die Pistole, um den Nebenkläger zu erschießen. Dieser sprang auf den Angeklagten, wodurch er die Schussabgabe verhinderte.
Das Landgericht Mühlhausen beurteilte das Verhalten des Angeklagten zum Nachteil des Nebenklägers als versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen in Tateinheit mit Besitz und Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe und verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die durch den Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mühlhausen eingelegte Revision hatte zum Teil Erfolg.
Nach Auffassung der Karlsruher Richter begegnet die Annahme eines versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Rechtsfehler bei der Bewertung des Tatmotivs des Tötungsversuchs als niedriger Beweggrund i.S.v. § 211 Abs. 2 StGB zwinge zur Aufhebung des Schuldspruchs, auch soweit der Angeklagte wegen tateinheitlich begangenen Führens und Besitzes einer Kurzwaffe verurteilt wurde, was für sich genommen rechtlich nicht zu beanstanden sei.
Der BGH trug insoweit vor, dass Beweggründe im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB niedrig seien, wenn sie nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und deshalb besonders verachtenswert sind. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe in deutlich weiterreichendem Maß als bei einem Totschlag als verachtenswert erscheinen, erfordere eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren. Die Gesamtbetrachtung habe die Entstehungsgeschichte der Tat zu berücksichtigen, die Persönlichkeit des Täters, dessen Beziehung zum Opfer und die näheren Umstände der Tat. Gefühlsregungen wie Eifersucht, Wut, Ärger, Hass oder Rache seien als niedrige Beweggründe in Betracht zu ziehen, sofern sie ihrerseits auf niedrige Beweggründe beruhen. Entbehrt das Motiv dagegen ungeachtet der Verwerflichkeit, die jeder vorsätzlichen und rechtswidrigen Tötung innewohnt, nicht jeglichen nachvollziehbaren Grundes, so sei es im Allgemeinen nicht als „niedrig“ zu qualifizieren. Entscheidend sei eine rechtliche, nicht eine moralische Bewertung.
Der BGH führte weiter aus, dass in subjektiver Hinsicht erforderlich sei, dass der Täter die Umstände, welche die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Ausführung der Tat nicht nur in sein Bewusstsein hätte aufnehmen können, sondern tatsächlich darin aufgenommen hat, und dass er, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese zur Tatzeit gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern konnte. Letzteres sei nicht der Fall, sofern der Täter außerstande war, sich von seinen gefühlsmäßigen und treibhaften Regungen freizumachen.
Nach Beurteilung des BGHs habe das Landgericht im hiesigen Fall zwar den allgemeinen Maßstab zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe herangezogen. Seine Würdigung in der Konstellation, dass der Angeklagte das zunächst normalpsychologisch entwickelte Rachemotiv zum Zeitpunkt der Tat unter dem Einfluss eines hirnorganischen Psychosyndroms ausgelebt hat, sei jedoch nicht frei von Rechtsfehlern. Nach der Rechtsprechung des BGHs sei das „Motivationsbeherrschungspotenzial“ im Sinne des Mordmerkmals nicht mit der Fähigkeit zur Unrechtseinsicht und Handlungssteuerung bei der Tatausführung im Sinne des §§ 20, 21 StGB identisch. Spielen bei der Tat gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen eine Rolle, so müsse sich der Tatrichter, von Evidenzfällen abgesehen, gesondert mit der Frage auseinandersetzen, ob der Angeklagte in der Lage war, diese Regungen gedanklich zu beherrschen und sie willensmäßig zu steuern. Einem Täter, der im Tatzeitpunkt derartige Gefühlsregungen verstandesmäßig nicht zu erkennen oder, wenn er sie erkannt habe, nicht so zu steuern vermöge, dass sie als auslösendes Moment für eine Tötungshandlung nicht mehr in Betracht kommen, könne die Niedrigkeit des Handlungsmotivs, anders als die Handlung selbst, nicht zum Vorwurf gemacht werden. Bei einem solchen Täter liege das Mordmerkmal des Handelns aus niedrigen Beweggründen nicht vor. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die vorsätzliche Tötung bleibe jedoch bestehen. Das gelte selbst dann, wenn dieselben Umstände sowohl für die Schuldfähigkeit als auch für die Mordqualifikation erheblich sein können.
Insoweit seien die vom Landgericht hervorgehobenen Gründe für die beim Angeklagten erhaltene Wahrnehmungs- und nur eingeschränkte Steuerungsfähigkeit allein nicht ausreichend, um zugleich zu begründen, dass der Angeklagte zur Tatzeit fähig war, seine gefühlsmäßigen Regungen gedanklich zu beherrschen und sie willensmäßig zu steuern. Konnte der Angeklagte 10 bis 15 Jahre lang dem von Anfang an vorhandenen Rachegedanken jedenfalls soweit widerstehen, dass er keine Bemühungen unternahm, den Kokaindieb zu ermitteln, und hat er dem Drang zur Erfüllung seines Racheschwurs im Zweifel so lange widerstanden, bis sein Hemmungsvermögen infolge des hirnorganischen Psychosyndroms beeinträchtigt wurde, so spreche dies tendenziell gegen eine zur Tatzeit vorhandene Fähigkeit zur willensmäßigen Steuerung (nur) der auf Rache ausgerichteten Gefühlsregung. Das Landgericht hat den langen Vorlauf auf dem Weg zum Versuch des Tötungsverbrechens dagegen nur als Hinweis auf das Vorliegen niedriger Bewegründe bewertet. Das ginge jedoch an der gebotenen Gesamtwürdigung im Hinblick der Fähigkeit zur gedanklichen Erfassung und Steuerung der gefühlsmäßigen Regungen vorbei.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Strafverteidiger in Berlin-Kreuzberg