Zum Begriff der Heimtücke (§ 211 StGB)
Der Bundesgerichtshof (BGH) setzte sich in seinem Urteil vom 28. Mai 2024 (6 StR 479/23) mit dem Mordmerkmal der Heimtücke (§ 211 Abs. 2 StGB) auseinander. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde.
Nach den Feststellungen des Landgericht Verden war der Angeklagte im Anschluss an die Trennung von der Geschädigten wütend auf diese, weil sie ihm den Kontakt zu dem gemeinsamen Sohn verweigerte. Der Angeklagte war der deutschen Sprache nicht mächtig und wusste nicht, wie er ein Umgangsrecht durchsetzen konnte. Zudem befürchtete er, dass sich die Geschädigte nicht gut um das Kind kümmern würde. Um sie beobachten zu können, ließ er sich heimlich zunächst auf dem Dachboden des Mehrfamilienhauses, in dem die Geschädigte lebte, nieder und bezog dort später unbemerkt die leerstehende Wohnung gegenüber derjenigen der Geschädigten. Da ihm sein Sohn fehlte, nahm seine Wut auf sie weiter zu; er entwickelte Tötungsfantasien und bedrohte sie in Sprach- und Kurznachrichten. Die Geschädigte befürchtete, dass sich der Angeklagte Zuritt zu ihrer Wohnung verschaffen könnte, brachte Kameras an, um die Räume in ihrer Abwesenheit überwachen zu können, und beschaffte sich zu ihrer Verteidigung Reizstoffspray.
Am Vormittag des 10. August 2022 beobachtete der Angeklagte durch den Türspion, wie die Geschädigte das Haus verließ. Aus seiner aufgestauten Wut heraus entschloss er sich nun, sie zu töten. Als sie mit dem Sohn zurückkehrte und das Treppenhaus betrat, verließ der mit einem Messer mit einer Klingenlänge von 20 cm bewaffnete Angeklagte die Wohnung. Er stach wiederholt auf die Geschädigte ein, die Reizgas einsetzte und die Treppen hinab in Richtung Hauseingangstür flüchtete. Der Angeklagte setzte ihr nach, nahm sie vor der Haustür in den „Schwitzkasten“ und versetzte ihr mindestens drei weitere Stiche. Als die Geschädigte zu Boden sackte, ließ er von ihr ab und lief davon. Sie erlitt 15 Stichverletzungen auf der Vorderseite des Rumpfes und zwei rückseitige. Sie verstarb innerhalb weniger Minuten.
Das Landgericht Verden hat das Verhalten des Angeklagten als Totschlag gewertet (§ 212 Abs. 1 StGB) gewertet. Vom Vorliegen eines Mordmerkmals, insbesondere der Heimtücke, hat sie sich nicht zu überzeugen vermocht. Feststellungen hätten sich weder zur Reihenfolge der Stichverletzungen noch dazu treffen lassen. ob dem Angriff ein Streitgespräch vorausgegangen sei, ob die Geschädigte das Reizstoffspray vor dem ersten Messerstich eingesetzt und ob der Angeklagte sie angegriffen habe, als sie ihm den Rücken zugekehrt habe. Daher ist das Schwurgericht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass die Geschädigte den bewaffneten Angeklagten im Treppenhaus wahrgenommen habe, wegen der von ihr ernstgenommenen Drohungen nicht arglos gewesen sei und das Reizgas noch vor dem ersten Angriff eingesetzt habe. Die dem Angeklagten körperlich überlegene Geschädigte sei ferner nicht wehrlos gewesen.
Die durch den Nebenkläger gegen das Urteil des Landgerichts Verden eingelegte Revision hatte Erfolg. Nach Auffassung der Karlsruher Richter hält die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht das Vorliegen des Mordmerkmals der Heimtücke verneint hat, hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht statt. Die Beweiswürdigung sei Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Es habe das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Revisionsgericht könne die tatgerichtliche Beweiswürdigung nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Solche liegen in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft sei, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt, naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert oder einzelne Beweisanzeichen nur isoliert bewertet worden seien und die gebotene umfassende und erschöpfende Gesamtwürdigung aller Beweisergebnisse unterblieben sei. Hieran gemessen erweise sich die Beweiswürdigung hinsichtlich des Mordmerkmals der Heimtücke in zweifacher Hinsicht als lückenhaft. Das Landgericht habe schon nicht in den Blick genommen, dass bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat das heimtückische Vorgehen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB auch in Vorkehrungen liegen kann, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sondern diese bei der Ausführung der Tat noch fortwirken. Werde das Tatopfer etwa planmäßig in einen Hinterhalt gelockt oder ihm gezielt eine raffinierte Falle gestellt, komme es daher nicht mehr darauf an, ob es zu Beginn der Tötungshandlung noch arglos war. Das festgestellte Vorgehen des Angeklagten, namentlich die von ihm getroffenen Vorkehrungen, um der Geschädigten vor ihrer Wohnungstür auflauern zu können, hätte dem Landgericht Anlass zu der Prüfung geben müssen, ob hier ein solcher Fall gegeben sei.
Dem Urteil des LG sei zudem nicht zu entnehmen, ob bei dem Tatopfer Kampf- oder Abwehrverletzungen festgestellt wurden. Ihr Fehlen könne schon für sich genommen ein gewichtiges Beweiszeichen für das Vorliegen von Heimtücke sein. Erst recht gelte dies vorliegend mit Blick darauf, dass die Geschädigte dem Angeklagten körperlich überlegen und infolge der Sprach- und Kurznachrichten mit bedrohlichem Inhalt auf eine mögliche Auseinandersetzung grundsätzlich vorbereitet war.
Der BGH führte weiterhin in dem Urteil aus, dass das angefochtene Urteil im Übrigen besorgen lasse, dass das Landgericht von einem zu engen Verständnis des Mordmerkmals der Heimtücke ausgegangen sei. Das Tatopfer könne auch dann arglos (und deshalb wehrlos) sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentrete, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz sei, dass keine Möglichkeit bleibe, dem Angriff zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren, wobei für die Beurteilung die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs maßgeblich sei.
Das Urteil beruhe auf den aufgezeigten Rechtsfehlern und bedarf deshalb erneuter Verhandlung und Entscheidung, so der BGH. Für die neue Hauptverhandlung, betonten die Karlsruher Richter, dass es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten sei, zugunsten eines Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht habe.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg

