Unterernährtes Kind – Zur gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen

Die gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB setzt voraus, dass der Täter mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich die Körperverletzung begeht. Mit der Frage, ob der Qualifikationstatbestand auch bei einem Unterlassen durch zwei Garanten erfüllt ist, setzte sich der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Beschluss (2 StR 459/21) vom 17. Januar 2023 auseinander. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Nach den Feststellungen des Landgerichts Darmstadt richteten die Angeklagten F. und A. ihren Alltag nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes nicht nach dessen Bedürfnissen aus, sondern nur nach ihren eigenen Interessen. Unter anderem machten sie Ausflüge, Wanderungen und Fernreisen. Bis zur Untersuchung der U5 war die Kindesentwicklung unauffällig; dann war die Geschädigte leicht untergewichtig, worauf die Kinderärztin hinwies. Diese klärte die Angeklagten auch über die erforderliche Ernährung auf und forderte sie zur Wahrnehmung eines Kontrolltermins auf, wozu es aber nicht kam.

Anfang 2019 war die finanzielle Situation der Angeklagten besonders angespannt und die Angeklagte F. litt unter einer depressiven Verstimmung. Vom Angeklagten A. erfuhr sie keine Unterstützung. Die Angeklagten vernachlässigten das gemeinsame Kind, vor allem hinsichtlich ihrer Ernährung. Ihr Körpergewicht nahm stetig ab und die Angeklagten bemerkten ihren Verfall. Sie verhinderten, dass andere Personen, insbesondere die Großeltern des Kindes, davon erfuhren. Die Angeklagten machten aber Reisen und Ausflüge. Demgegenüber sparten sie an Babynahrung. Das Kind erhielt nur wenige Löffel Nahrung aus Gläschen, deren Inhalt anschließend verschimmelte. Auch die Körperhygiene des Kindes war desolat. Anfang Mai 2019 befand sich das Kind in einem lebensbedrohlichen Zustand. Es war somnolent und konnte keine Nahrung mehr aufnehmen.

Am 6. Mai 2019 hörte die Angeklagte F. ein Röcheln aus dem Kinderzimmer und befürchtete, dass das Kind sterben würde. Sie hatte Angst, selbst nachzusehen, und bat den Angeklagten A. darum. Nachdem dieser das Kind reglos vorgefunden hatte, fuhren die Angeklagten mit ihm zur Rettungswache des Roten Kreuzes. Das knapp einjährige Kind wog nur noch 4.000 g, war apathisch, bewegte sich nicht mehr, hatte Atemaussetzer und zeigte keine Reaktionen. Es war klinisch tot, wurde aber von einem Rettungssanitäter reanimiert. Anschließend wurde es in die Klinik verbracht, wo es erneut reanimiert werden musste. Dort wurde unter anderem ein „Hungerdarm“ festgestellt, der durch lange Mangelernährung entsteht. Am 28. Mai 2019 wurde das Kind aus dem Krankenhaus entlassen und kam in die Obhut einer Pflegefamilie. Es zeigt eine globale Entwicklungsstörung; voraussichtlich werden kognitive Beeinträchtigungen infolge der Tat verbleiben.

Das LG hat angenommen, dass sich die Angeklagten der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, jeweils durch Unterlassen, gemäß § 224 Abs. 1, § 225 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 3 Nr. 1, § 13, § 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht haben. Die durch die Angeklagten gegen das Urteil eingelegten Revisionen hatte teilweise Erfolg. Die Rechtsmittel führten aufgrund der erhobenen allgemeinen Sachrügen zu einer Änderung des Schuldspruchs.

Nach Ansicht der Karlsruher Richter muss der Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen nach §§ 224 Abs. 1 Nr. 4, 13 Abs. 1 StGB entfallen. Dieser Qualifikationstatbestand setzte voraus, dass der Täter die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begehe. Ob die Voraussetzungen dieser Strafvorschrift auch bei einem Unterlassen durch zwei Garanten erfüllt sind, habe der BGH bislang nicht entschieden. Nach der Rechtsprechung komme eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB allerdings dann nicht in Betracht, wenn neben dem aktiv handelnden Täter der Körperverletzung dem Opfer nur eine weitere Person gegenüberstehe, die sich rein passiv verhalte. Reiche aber die bloße Anwesenheit einer weiteren Person am Tatort neben einem aktiv handelnden Täter zur Erfüllung des Tatbestandes von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht aus, könne die Untätigkeit eines weiteren Garanten bei einer allein durch Unterlassen begangenen Körperverletzung erst recht nicht zur Erfüllung des Qualifikationstatbestandes führen. Diese Auslegung ergebe sich maßgeblich aus Sinn und Zweck der Vorschrift. Der Wortlaut der Bestimmung gebe keine abschließende Auskunft über die Art und Qualität der Tatbeteiligung. Einerseits setze sie eine „gemeinschaftlich“ begangene Tat voraus, was auf eine Voraussetzung einer mittäterschaftlichen Begehung hinweisen könnte; andererseits verlange sie die Mitwirkung eines weiteren „Beteiligten“, worunter sowohl Täter als auch Teilnehmer (§ 28 Abs. 2 StGB) in beliebiger Konstellation, also grundsätzlich auch durch Unterlassen. Der Qualifikationstatbestand des Besonderen Teils habe mit den genannten Begriffen nicht bestimmte Teilnahmeformen oder Begehungsarten des Allgemeinen Teils aufgenommen, sondern eigene Tatbestandsvoraussetzungen formuliert, die eigenständig auszulegen seien.

Für die Frage, welche Art und Qualität der Beteiligungshandlung zur Erfüllung des Tatbestands vorauszusetzen sei, bleibe der Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung maßgebend. Das gelte auch für die Frage, ob der Qualifikationstatbestand durch ein unechtes Unterlassungsdelikt erfüllt werden könne. Der Normzweck spreche gegen eine Qualifikation der Körperverletzung durch alleiniges Unterlassen zweier Garanten. Der Grund für die Qualifikation der Körperverletzung in Fällen, in denen ein Täter („Wer“) die Körperverletzung „mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“ begeht, bestehe in der besonderen Gefahr für das Opfer, dass es bei der Konfrontation mit einer Übermacht psychisch oder physisch in seinen Abwehr- oder Fluchtmöglichkeiten beeinträchtigt werde, ferner in der Gefahr der Verursachung erheblicher Verletzungen infolge der Beteiligung mehrerer Personen an der Körperverletzung. Diese Gefahren bestehen in einer Weise, so der BGH, welche die Erhöhung des Strafrahmen rechtfertige, nur dann, wenn bei der Begehung der Körperverletzung zwei oder mehr Beteiligte am Tatort anwesend sind und bewusst durch aktive Tatbeiträge mitwirken.

Die bloße Anwesenheit von Personen, die passiv bleiben, rechtfertige daher die erhöhte Strafdrohung nicht. Das Unterlassen entspreche nicht einer Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes durch ein Tun (§ 13 Abs. 1 StGB).

Der BGH trug weiter vor, dass die Verurteilung der Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung sich auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend erweise. Eine aktive Verletzungshandlung unter Begehung der Tat mit einem anderen gemeinschaftlich unter Konfrontation mit dem Opfer sei nicht festgestellt. Dass dazu noch Feststellungen getroffen werden können, schließe der Senat aus.

Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg

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