Patientenverwechselung – der Versuch der schweren Körperverletzung

Der Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigte sich jüngst in seinem Beschluss (1 StR 403/23) vom 17. April 2024 sowohl mit dem Versuch der schweren Körperverletzung. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Nach den Feststellungen des Landgerichts München I sterilisierte der Angeklagte, Facharzt für Allgemeinchirurgie, am 10. März 2016 im Rahmen einer Operation zur Behebung eines beidseitigen Leistenbruchs den 17-jährigen unter Autismus leidenden P. Er ging aufgrund einer Personenverwechslung davon aus, G. zu operieren, bei dem zeitgleich zur Behandlung des Leistenbruchs eine Sterilisation durchgeführt werden sollte. Unmittelbar im Anschluss an den Eingriff erkannte der Angeklagte seinen Irrtum. Er legte die Personenverwechselung noch am selben Tag gegenüber der Mutter des Geschädigten P. offen und vermittelte sie am Folgetag an einen Spezialisten für Refertilisation. Zwei Wochen später konnte die Zeugungsfähigkeit des Geschädigten P. durch eine sechsstündige robotisch unterstützte Operation – nicht ausschließbar – wiederhergestellt werden.

Am 14. April 2016 nahm der Angeklagte die Sterilisation des einwilligungsunfähigen G. mit Einwilligung von dessen Eltern vor. Diese waren unter anderem für den Aufgabenkreis „Gesundheitsfürsorge“ als Betreuer ihres Sohnes bestellt. Ein Sterilisationsbetreuer (§ 1899 Abs. 2 BGB a.F.) war nicht bestellt worden; die erforderliche Genehmigung des Betreuungsgerichts für die Sterilisation (§ 1905 BGB a.F.) lag nicht vor. 

Das LG beurteilte zu Gunsten des Angeklagten das Geschehen als ein Versuch der schweren Körperverletzung gemäß § 266 Abs. 1 Nr. 1 StGB, da die schwere Folge – hier der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit – bei dem Geschädigten P nicht ausschließbar nicht eingetreten sei. Von dem beendeten Versuch der absichtlichen schweren Körperverletzung sei der Angeklagte nicht strafbefreiend nach § 24 Abs. 1 StGB zurückgetreten. Seine Bemühungen, den Eintritt der dauernden Fortpflanzungsunfähigkeit des Geschädigten P zu verhindern, seien nicht als freiwilliges Abstandnehmen vom Tatplan im Sinne des § 24 StGB anzusehen, da sich dieser auf den Patienten G bezogen und der Angeklagte seine Bemühungen entfaltet habe, nachdem er erkannt habe, dass er einem „error in persona“ unterlegen gewesen sei. Von seinem Entschluss, bei dem Geschädigten G eine dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit herbeizuführen, sei er damit nicht freiwillig abgerückt. Der Angeklagte wurde wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung in Tatmehrheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die durch den Angeklagten gegen das Urteil eingelegt Revision hatte Erfolg.

Nach Ansicht des BGHs hält die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil des P einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht stand. Das LG habe zutreffend das Durchtrennen der beiden Samenleiter des P rechtlich als beendeten Versuch einer absichtlichen schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 4, Abs. 2, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB gewertet.

Die Tat wurde nicht vollendet. Die in § 226 Abs. 1 StGB bezeichneten schweren Folgen müssten von längerer Dauer sein. Diese „Langwierigkeit“ der schweren Folge sei Teil des tatbestandlichen Erfolges. Fehlt es hieran, sei der Tatbestand nicht vollendet. „Längere Dauer“ sei dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genüge, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des – länger währenden – krankhaften Zustands nicht abgesehen werden könne. Andererseits komme es dem Täter zugute, wenn die zumindest teilweise Wiederherstellung konkret wahrscheinlich sei. Im hiesigen Fall fehle es an dem Eintritt der schweren Folge, weil die Zeugungsfähigkeit des Geschädigten P nach zwei Wochen nach der Vasektomie – nicht ausschließbar – wiederhergestellt werden konnte.

Der Versuch sei nicht fehlgeschlagen. Vielmehr hielt der Angeklagte die Vollendung der Tat weiterhin für möglich. „Tat“ im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB sei die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne, also die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg. Ein Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 StGB setzte daher nur ein Abstandnehmen von bzw. eine Verhinderung der Vollendung dieses gesetzlichen Tatbestandes voraus. Die vorherige Erreichung außertatbestandlicher Ziele sei unschädlich. Dies gelte auch in den Fällen eines „sinnlos gewordenen Tatplans“. Im vorliegenden Fall sei daher die „Tat“ i.S.v. § 24 Abs. 1 StGB – entgegen den Ausführungen des LG – nicht die beabsichtigte Sterilisierung des konkret identifizierten Patienten, sondern allgemeiner die vom Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 4 , Abs. 2 StGB umschriebene Verursachung der Zeugungsunfähigkeit einer Person. Diese „Tat“ war nach den Karlsruher Richtern nicht fehlgeschlagen, sondern wäre – hätte der Angeklagte den Dingen seien Lauf gelassen – zum Nachteil des P zur Vollendung gelangt. Die Identität des Patienten bedarf lediglich außertatbestandliche Motive des Angeklagten. Ob der Angeklagte von seinem Entschluss, den Patienten G zu sterilisieren, (endgültig) abgerückt ist, sei somit unerheblich. Dies wahre auch den Opferschutz, weil für den Täter ein Anreiz geschaffen werde, die Tatvollendung nach Bemerken eines „error in persona“ noch aktiv zu verhindern.

Der BGH betonte hierbei, dass abweichende Literaturstimmen, die im Falle des Bemerkens eines „error in persona“ durch den Täter stets einen Fehlschlag annehmen, den Tatbegriff im Sinne des § 24 StGB verkennen.  

Nach den Karlsruher Richtern verhinderte der Angeklagte die Vollendung des Delikts. Ein Rücktritt vom beendeten Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts sei grundsätzlich auch dadurch möglich, dass der Täter das Eintreten der Folge verhindere, nachdem er zunächst alles Erforderliche für den Erfolgseintritt getan habe. Die Aufdeckung der Tat gegenüber der Mutter des P und deren Vermittlung an den Refertilisierungsexperten habe eine neue Kausalkette in Gang gesetzt, an deren Ende die – nicht ausschließbar erfolgreiche – Refertilisierung des Geschädigten stand. Damit habe der Angeklagte die am besten geeignete Rettungsmaßnahme ergriffen.

Das LG habe bei der Beurteilung der Freiwilligkeit des Rücktritts einen unzutreffenden Maßstab angelegt und deshalb weitere notwenige Feststellungen zur rechtlichen Beurteilung der Freiwilligkeit unterlassen.

Freiwillig sei der Rücktritt, wenn er nicht durch zwingende Hinderungsgründe veranlasst werde, sondern der eigenen autonomen Entscheidung des Täters entspringe. Dabei stelle die Tatsache, dass der Anstoß zum Umdenken von außen komme, für sich genommen die Autonomie der Entscheidung des Täters nicht in Frage. Anders könne es sein, wenn unvorhergesehene äußere Umstände dazu geführt haben, dass bei weiterem Handeln das Risiko, angezeigt oder bestraft zu werden, unvertretbar ansteigen würde. Nicht maßgeblich für die Bewertung der Freiwilligkeit sei dagegen der bei Beginn der Tat bestehende Tatplan. Es gelte nicht die Tatplanperspektive, sondern der Rücktrittshorizont nach Abschluss der letzten Ausführung. Das LG habe rechtsfehlerhaft an den Tatplan angeknüpft, indem es ausführte, dass die Bemühungen des Angeklagten, den Eintritt der dauerhaften Fortpflanzungsunfähigkeit des Geschädigten P zu verhindern, nicht als freiwilliges abstandnehmen vom Tatplan i.S.d. § 24 StGB anzusehen sei, weil sich dieser auf den G bezogen und der Angeklagte die Bemühungen entfaltet habe, als er erkannt habe, dass er einem „error in persona“ unterlegen sei. Da das LG keine Feststellungen zur Freiwilligkeit des Rücktritts im Hinblick auf den Versuch der schweren Körperverletzung zulasten des P getroffen habe, sei dem Revisionsgericht die Nachprüfung des Freiwilligkeitserfordernisses nicht möglich. Das neue Tatgericht werde insbesondere zu erörtern haben, ob der Angeklagte nach dem Hinweis einer Mitarbeiterin auf die Personenverwechslung noch eine eigene autonome Entscheidung treffen konnte, eine operative Wiederherstellung der Fortpflanzungsfähigkeit zu veranlassen, oder sich durch die Aufdeckung der Tat dazu gezwungen sah.

Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert