Neugeborenes Kind aus dem Krankenhaus entführt – Entziehung Minderjähriger gemäß § 235 StGB

In seinem Beschluss vom 21. Februar 2023 (6 StR 16/23) setzte sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit der Entziehung Minderjähriger gemäß § 235 StGB auseinander. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Nach den Feststellungen des Landgerichts Saarbrücken begab sich die Angeklagte in das Universitätsklinikum und betrat das Wöchnerinnenzimmer der Zeuginnen N und R. Dort erklärte sie der Zeugin R wahrheitswidrig, dass es auf der Station zu einer Coronainfektion gekommen sei und sie deren zwei Tage alten Sohn zur Durchführung eines Abstrichs mitnehmen müsse. Die Zeugin, die aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes der blauen Krankenhauskleidung tragenden Angeklagten davon ausging, dass diese dem Klinikpersonal angehöre, willigte schließlich hierin ein. Die Angeklagte nahm daraufhin den ihr unbekannten Säugling an sich und verbrachte ihn in ihre Wohnung, wo sie ihn dauerhaft als ihr eigenes Kind ausgeben wollte. Dort wurde er jedoch am Folgetag unbeschadet aufgefunden und zurück in das Klinikum gebracht.

Das LG hat die Angeklagte wegen „Entziehung eines Minderjährigen“ zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Angeklagte legte gegen das Urteil Revision ein. Das Rechtsmittel blieb allerdings ohne Erfolg. Nach Ansicht der Karlsruher Richter ist die Strafkammer zutreffend davon ausgegangen, dass die von der Angeklagte verwirklichten Tatbestandsvarianten des § 235 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB in Tateinheit zueinanderstehen.

Der BGH führte insoweit aus, dass das konkurrenzrechtliche Verhältnis dieser beiden Varianten umstritten sei. Während in der Kommentarliteratur teilweise angenommen werde, dass diese auch bei der Identität des betroffenen Minderjährigen in Tateinheit stehen, soll nach einer anderen Ansicht in dieser Fallkonstellation Nr. 2 und Nr. 1 verdrängt werden. Der BGH habe soweit ersichtlich, diese Frage bislang nicht entschieden.

Werden – wie im vorliegenden Fall – durch dieselbe Handlung mehrere Straftatbestände erfüllt, so sei grundsätzlich von Tateinheit auszugehen. Etwas anderes gelte nur ausnahmsweise im Falle der Gesetzeseinheit, die verhindern soll, dass ein im Kern identisches Unrecht doppelt erfasst werde. Gesetzeseinheit komme in der vorliegenden Konstellation einzig in der Erscheinungsform der Konsumtion in Betracht. Diese setze voraus, dass der Unrechtsgehalt der strafbaren Handlung bei einer wertenden Betrachtung bereits durch einen der anwendbaren Tatbestände erschöpfend erfasst werde. Die Voraussetzung des einen Tatbestandes müsse also regelmäßige oder typische Erscheinungsform der Verwirklichung des anderen Tatbestandes sein.

Ausgehend von diesen Maßstäben werde die Annahme einer Konsumtion dem Verhältnis der Tatvarianten des § 235 Abs. 1 StGB zueinander nicht gerecht. Die zuvörderst die elterliche oder sonstige familienrechtliche Sorge schützende Vorschrift des § 235 StGB wurde durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 mit dem Ziel novelliert, Nachweisprobleme zu beseitigen und Strafbarkeitslücken zu schließen, die sich nach Ansicht des Gesetzgebers unter anderem im Zusammenhang mit der heimlichen „Wegnahme“ von Kleinstkindern sowie der Verbringung von Kindern in das Ausland ergeben hatten.  Die Neuregelung verzichte deswegen in Fällen, in denen der Täter ein Kind entziehe oder vorenthalte, ohne dessen Angehöriger zu sein (Abs. 1 Nr. 2), auf die bisher den Tatbestand einschränkenden Tatmittel der List, Drohung und Gewalt. Gleiches gelte für die ein Kind betreffenden Fälle mit Auslandsbezug (Abs. 2). Mit der Neuregelung habe der Gesetzgeber im Hinblick auf den Täterkreis, den geschützten Personenkreis und die besonderen Tatmodalitäten bewusste Differenzierungen vorgenommen. Diese finden ihren Grund und ihre Rechtfertigung in der besonderen Schutzbedürftigkeit von Säuglingen und Kleinkindern und der im Ausland ungleich schweren Durchsetzbarkeit deutscher Entscheidungen über die Personensorge. Zwar mögen sich die beiden Varianten des Abs. 1 nicht selten überschneiden, die Variante des § 235 abs. 1 Nr. 2 StGB sei jedoch keineswegs regelmäßig oder typisch (mit)erfüllt, wenn die Entziehung unter Einsatz eines der in Abs. 1 Nr. 1 genannten Tatmittel erfolge. Zudem wohne der Entziehung eines Kindes durch einen womöglich vollkommen fremden Nichtangehörigen ein weiteres Unrecht inne, das auch mit einer größeren Gefahr für das entzogene Kind verbunden sein könne. Deshalb stelle die Tatvariante des Abs. 1 Nr. 2 StGB auch bei wertender Betrachtung nicht lediglich eine Auffangnorm dar. Vielmehr komme ihr ein den in Abs. 2 normierten Fällen vergleichbares spezifisches Tatunrecht zu.

Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg

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