Abwesenheit des Angeklagten

Ein Gastbeitrag von Alexander Barthel

Der Europäische Gerichthof für Menschrechte (EGMR) hat in einem Urteil vom 22 September 2009 seine ständige Rechtsprechung zum fairen Verfahren und dem Grundsatz einer effektiven Verteidigung des Angeklagten im Strafverfahren erneut bestätigt (Dr. Wolfram Karl, LLM, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 Rn 385).

Im vorliegenden Fall war eine Berufung von einem finnischen Gericht verworfen worden, weil der Angeklagte schuldhaft zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen war, obwohl sein Rechtsanwalt verteidigungsbereit anwesend war.

Der EGMR sah in der Verwerfung der Berufung alleine auf Grund der fehlenden Anwesenheit des Angeklagten eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK.

In Art. 6 Abs. 3 lit c EMRK heißt es:

Abs. 3

Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

(…)

c.)

sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;

Nach dieser Vorschrift kann sich ein Angeklagter in jeder Lage des Verfahrens durch einen Verteidiger vertreten lassen.

Nach Auffassung des EGMR müsse zwar dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt werden, mit wirksamen Mitteln die unentschuldigte Abwesenheit des Angeklagten zu sanktionieren, insbesondere weil der Anwesenheit des Angeklagten in Strafverfahren ein besonderes Gewicht zukommt. Darüber hinaus liegt die eigene Anwesenheit auch im eigenen Interesse des Angeklagten. Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass dem Angeklagten als Sanktion für seine unentschuldigte Abwesenheit sein Recht auf rechtliches Gehör und sein Recht auf eine effektive Verteidigung genommen wird.

Daher ist auch bei unentschuldigtem Fehlen des Angeklagten zur Wahrung einer effektiven Verteidigung dem Verteidiger die Möglichkeit zu geben, seinen Mandanten vor Gericht zu vertreten und zu verhandeln (siehe Lala gegen die Niederlande, 22. September 1994, § 33 Serie A-Nr. 297-A; Van Geyseghem gegen Belgien [GC], Nr. 26103, ECHR 1999-I.). Weiterhin müsse dem Angeklagten immer die Gelegenheit gegeben werden, vom Gericht effektiv gehört zu werden (Van de Hurk gegen die Niederlande, 19. April 1994, §59, Serie A Nr. 288; Virgl Ionescu gegen Rumänien, Nr. 53037/99, §44, 28. Juni 2005). Ohne diese Grundsätze sei ein faires Verfahren nicht zu gewährleisten.

Deshalb müsse der Gesetzgeber andere Möglichkeiten schaffen, als die, welche zu einem Verlust des rechtlichen Gehörs und der effektiven Verteidigung führen würden.

Auch in der deutschen Strafprozessordnung gibt es mit § 329 StPO eine Norm, welche eine Verwerfung der Berufung auf Grund der Abwesenheit des Angeklagten zum Verhandlungsbeginn anordnet.

Nach seinem Wortlaut gestattet § 329 StPO die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, wenn eine Vertretung zulässig ist. Diese Möglichkeit bezog sich im Ergebnis bisher nur auf die Fälle des § 411 Abs. 2 StPO. Im Strafbefehlsverfahren kann sich der Angeklagte nach der Einlegung des Einspruchs eines Verteidigers bedienen. Er muss nicht persönlich in der Hauptverhandlung erscheinen.

Abgesehen von § 411 StPO gibt es praktisch keine Fälle, in denen eine Vertretung bisher zulässig wäre.

Nach meiner Auffassung müsste die Vorschrift des § 329 StPO so ausgelegt werden, dass sich der Angeklagte immer durch einen Verteidiger in der Berufungsverhandlung vertreten lassen kann.

Sollten sich die deutschen Berufungsgerichte nicht der Entscheidung des EGMR unterwerfen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich der EGMR mit dem deutschen Berufungsrecht beschäftigen muss.

Rechtsreferendar Alexander Barthel, Berlin

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