NSU-Reihe: Gegenstand des Anklagesatzes und seine Verlesung nach § 243 Abs. 3 StPO

Am zweiten Tag der Hauptverhandlung im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München wurde die Anklage vom Bundesanwalt Herbert Diemer verlesen.
Doch welche Funktion hat die Verlesung der Anklage eigentlich? Was muss sie beinhalten, wann und vom wem wird sie vorgetragen? In unserer Reihe zum NSU-Prozess sollen all diese Fragen rund um die Anklageverlesung beantwortet und spezielle Hinweise zum Gegenstand der Anklage im NSU-Verfahren gegeben werden.

Was ist der Verlesung der Anklage vorausgegangen?
Nach Abschluss der Ermittlungen muss die Staatsanwaltschaft prüfen, ob die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage gem. § 170 Abs. 1 StPO bieten. Dies ist immer dann der Fall, wenn nach Auffassung der Staatsanwaltschaft ein hinreichender Tatverdacht besteht. Hierfür muss bei vorläufiger Tatbewertung mit einer Verurteilung zu rechnen sein. Sollte die Staatsanwaltschaft von einem hinreichenden Tatverdacht ausgehen, erhebt sie Anklage, anderenfalls stellt sie das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO ein. Die Anklage wird im weiteren Verfahren dem Beschuldigten mitgeteilt. Nach Nr. 23 Abs. 2 RiStBV darf die Öffentlichkeit über die Anklagerhebung und Teile der Anlage erst unterrichtet werden, sobald der Beschuldigte vom Inhalt der Anklage Kenntnis nehmen konnte. Ein Verstoß gegen Nr. 23 RiStBV wurde durch die Verteidiger geltend gemacht.

Was ist die Funktion der Anklageschrift?
Die Anklageschrift erfüllt im Wesentlichen zwei Funktionen. Zunächst soll der Beschuldigte über den gegen ihn erhobenen Vorwurf informiert werden (Informationsfunktion). Darüber hinaus hat die Anklageschrift auch eine Umgrenzungsfunktion. Die Anklage legt den Sachverhalt in persönlicher und sachlicher Hinsicht fest, über den das Gericht in strafrechtlicher Sicht entscheiden darf.

Welchen Zweck hat es, die Anklage zu verlesen?
Die Verlesung der Anklage erfüllt keinen Selbstzweck. Vielmehr sollen hierdurch die Richter und insbesondere Schöffen, die an der Hauptverhandlung teilnehmen und denen die Anklage unter Umständen noch nicht bekannt ist, über den geschichtlichen Vorgang des Verfahrens unterrichten. Damit soll ihnen ermöglicht werden, ihr Augenmerk während der gesamten Verhandlung auf die wichtigsten Verfahrensvorgänge zu richten. Dies gilt gewiss auch für die teilnehmende Öffentlichkeit. Ferner soll den Prozessbeteiligten durch die Anklageverlesung Gewissheit darüber vermittelt werden, auf welche Tat sie ihre Angriffs- und Verteidigungsvorbringen einzurichten haben. Dieser Zweck macht die Verlesung des Anklagesatzes zu einer Prozesshandlung, auf die grundsätzlich nicht verzichtet werden kann. Überdies hinaus begründet sie eine wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens, die protokolliert werden muss.

Was passiert, wenn die Anklage nicht verlesen wird?
Wie schon erläutert, kann auf die Verlesung der Anklage nicht verzichtet werden. Der Gesetzgeber hat die unterlassene Verlesung jedoch nicht als einen absoluten Revisionsgrund konzipiert hat, bei dem das Urteil in der Regel auf einem solchen Verstoß beruht und infolgedessen die Revision begründet. Vielmehr handelt es sich um einen relativen Revisionsgrund, bei dem der Beruhenszusammenhang nach § 337 StPO geprüft werden muss. Dieser wird bei der unterlassenen Verlesung der Anklage in der Regel angenommen, sodass die Revision begründet ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz nimmt die Rechtsprechung jedoch an, wenn es sich um Fälle einfacher Sach- und Rechtslage handelt. Dies betreffe Verfahren, in denen sich der Sachverhalt den Beteiligten schnell erschlossen oder sich aus dem Gang der Hauptverhandlung für jeden Beteiligten klar ergeben habe, welche Taten dem Angeklagten vorgeworfen werden. Eine solche Ausnahme wäre im NSU-Verfahren jedoch wegen der Komplexität der Anklage absolut undenkbar.

Wer ist für die Anklageverlesung zuständig und was muss bei der Verlesung beachtet werden?
Zuständig für die Anklageverlesung ist grundsätzlich der Staatsanwalt. Da für den NSU-Prozess der Staatsschutz-Senat des Oberlandesgerichts München zuständig ist, wird die Anklage von der Generalbundesanwaltschaft vertreten und wurde demnach von einem Bundesanwalt, Herbert Diemer, verlesen.
Ist der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig, so muss ihm der Anklagesatz übersetzt werden. Wird die Übersetzung unterlassen, kann dies eine Revision begründen. Etwas anderes gilt allerdings, wenn dem Angeklagten bereits eine schriftliche Übersetzung des Inhalts der Anklageschrift überlassen worden ist. In diesem Fall kann ausnahmsweise darauf verzichtet werden, die Anklage in der Hauptverhandlung noch einmal zu übersetzen.

Was ist Gegenstand der Anklageverlesung und was wird den Angeklagten im NSU-Prozess vorgeworfen?
In der Hauptverhandlung wird nicht die gesamte Anklage, sondern nur den Anklagesatz verlesen. Dieser beinhaltet gemäß § 200 Abs. 1 S. 1 StPO den Angeschuldigten, die ihm zur Last gelegte Tat, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften. Insbesondere nicht verlesen wird das von der Staatsanwaltschaft zusammengetragene wesentliche Ergebnis der Ermittlungen.
Die Anklageschrift im NSU-Prozess umfasst 488 Seiten und wird von der Bundesanwaltschaft vertreten. Der Anklagesatz, der die wichtigsten Informationen der den Angeklagten vorgeworfenen Taten beinhaltet und auf 35 Seiten komprimiert ist, wurde am zweiten Prozesstag verlesen.
In der Anklageschrift werden mehr als 600 Zeugen benannt, beinahe 400 Urkunden stützen die Anklage und 22 Sachverständige werden in ihr zitiert. Angeklagt sind fünf Personen: Beate Zschäpe als Hauptangeklagte und die vier mutmaßlichen Helfer Ralf Wohlleben, der ehemaliger NPD-Funktionär ist, Andre E., Carsten S. und Holger Gerlach.
Beate Zschäpe wird in der Anklage Mittäterschaft in 10 Mordfällen innerhalb der Jahre 2000 und 2007, 20 versuchte Morde mittels Sprengstoffanschlägen in Köln im Jahre 2001 und 2004, schwere Brandstiftung und die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Dazu kommen außerdem 15 Banküberfälle, mit denen sich der NSU laut Anklage finanziert haben soll.
Andre E. soll in fünf Fällen Beihilfe zum versuchten Mord geleistet haben. Zudem wird ihm die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Er soll Bahncards besorgt, Wohnmobile angemietet und zugunsten von Beate Zschäpe eine Falschaussage bei der Polizei gemacht haben.
Ralf Wohlleben ist wegen Beihilfe zu neun Morden angeklagt, da er laut Anklage für die Beschaffung und Weiterleitung der Tatwaffe, einer Ceska 83, verantwortlich gewesen sein soll. Er habe ein Kontaktsystem zu den Untergetauchten aufgebaut und Mittelsmänner beauftragt, die nach seiner Anleitung arbeiteten, beispielsweise als Kuriere. Überbracht wurde die Tatwaffe laut Anklage von Carsten S., weswegen dieser sich wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen verantworten muss.
Holger G soll der Anklageschrift zufolge Führerscheine, ADAC- und AOK-Karten, sowie einen Reisepass für den NSU besorgt haben.

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